Part II – Their Pasts
Es war nun einige Tage nach dem Raub des antiken Kalenders.
Dritter Stock, Iias Zimmer. Die Wände waren mit an einigen Stellen herab fallenden, bunten, in warmen Farben gehalten Tapeten beklebt. Drei große Fenster mit roten, geöffneten Vorhängen ließen das Licht der Sonne herein. Der Boden war mit hellem Parkett verkleidet worden und bot eine große freie Fläche, die Iia gerne für Tanzeinlagen nützt. Ein großes Bett mit oranger, kuschelig weicher Bettwäsche und einem mittelgroßen Schaf-Stofftier nahm nahezu ein Viertel des Zimmers ein. Ein kleiner, niedriger, runder Holztisch mit einer imitierten Bienenwachskerze darauf stand direkt daneben und nahm den Platz eines Nachtkästchens ein. Weiters fand man in dem Zimmer einen großen Kleiderschrank mit jedoch nicht allzu viel Auswahl in seinem Innere und kleines Bücherregal mit verschiedenen Kinderbüchern – ein Hobby der Flammelle.
Momentan, morgens um 6:00 Uhr, fand man Iia mit ihrem Rücken an ihr Bett gelehnt am Boden sitzend. Sie war gekleidet in einem lila Schlafanzug mit einem flauschigen Kragen und ihr langes Haar hatte sie über ihre linke Schulter geworfen während sie in ihren Händen ein Bilderbuch hielt.
Die Karikaturen und Geschichten aus dem Buch waren sicherlich für Kinder jüngerer Altersgruppen gemacht worden, doch liebte sie die Einfachheit dieser. In ihrer Frühkindheit hatte sie nie solche Bücher gehabt, was wohl einer der Gründe war, wieso sie jetzt so viel mit diesen verband.
„Und dann ließ die Prinzessin ihr langes Haar von dem Turm herab, so dass der Prinz an diesem empor klettern konnte.“ murmelte sie schwärmend zu sich selbst und strich sich dabei durch ihr eigenes Haar, während sie mit verträumtem Blick das Bild eines hübschen, blonden Mädchens mit mehreren Metern langen Haars begutachtete, welches dieses an der Mauer eines hohen Turms in dem sie eingesperrt war zu einem hübschen Jüngling hinab fallen ließ.
Warum nur war ihr Haar nicht so lang? Sheas Zimmer lag direkt unter dem ihren, so wäre es sicherlich… nein, so langes Haar würde ihr sicherlich nur in die Quere kommen. Ein leises Kichern kam über ihre Lippen. Über was für Belanglosigkeiten sie manchmal nachdachte – es amüsierte sie selbst. Sie legte ihr Buch neben sich auf den Parkettboden und ließ ihren Hinterkopf auf die Matratze ihres Bettes sinken. Sie war nun 14 Jahre alt und was hatte sie aus ihrem Leben gemacht? Sie war von Eltern geboren worden, die sie nie kennenlernte, die sie auf der Straße aussetzten und hatte sich dort selbstständig zu dem gemacht, was sie nun war, bis Silver sie bei sich aufgenommen hatte, sie sich über beide Ohren in Shea verliebt hatte und sie Seite an Seite mit ihrem Geliebten zu einer Diebin und Mörderin wurde.
…
Iias Leben war alles andere als wünschenswert und doch hatte sie es geschafft, auch auf der Straße ein recht gesetzliches Leben zu führen. Sie hatte sich das Geld, das sie zum Überleben brauchte, als Aushilfe in einem kleinen Restaurant verdient und dort war es auch gewesen, dass Silver ihr zum ersten Mal begegnet war. Zuerst war er nur ein normaler Kunde, doch dann erschien er immer und immer wieder, bis er sie eines Tages nach der Arbeit auf der Straße abgefangen hatte.
Er hatte erkannt, dass sie keine Bleibe hatte und nicht gut bezahlt wurde. Er hatte ihr angeboten, bei sich zu leben und sie zu versorgen. Niemand hatte ihr je beigebracht, nicht auf Fremde zu hören, so sagte sie ohne zu überlegen zu, ungewiss dessen, worauf sie sich da einlassen würde.
Schnell erkannte sie, Silver war kein normaler Kerl. Er verlangte von ihr, Raubzüge zu begehen. Er erkannte ihre Fähigkeiten und verlangte, dass sie sie gegen andere einsetzte. Sie sollte andere verletzen, ihnen Leid zufügen, wenn es nicht anders ginge, sie töten. Nur der Gedanke daran schmerzte die Flammelle sehr und sie wehrte sich anfangs, doch gab es etwas, das es ihr wert war, weiterzumachen.
Sie war nicht mehr alleine. Nicht nur war da Silver sondern da waren auch erst zwei, dann drei Personen in ihrem Alter, die sich in derselben Situation wie sie wiederfanden. Ihre Freundschaft zu diesen, ihre Liebe zu einem von ihnen, machte es ihr möglich, all die Pein, die sie sich mit ihren Taten zufügte, durchzustehen.
…
Es klopfte an der Zimmertür.
Dritter Stock, Vices Zimmer. Ein Raum in nahezu totaler Dunkelheit. Durch die drei Fenster, die das Zimmer hatte, sah man nur die Wände des angrenzenden Gebäudes – noch dazu waren dunkelgrüne, eingerissene Vorhänge vor diese gezogen worden. Die Wände des Zimmers waren in ihrer natürlichsten, zementierten Form belassen worden und hier und da wiesen sie zentimetertiefe Kratzspuren auf. Von solchen Spuren verschont war der von einem schwarzen, langhaarigen Teppich überzogene Boden – er glich in gewisser Hinsicht einem frisch gemähten Rasen und es kitzelte etwas, wenn man barfuß über diesen hinweg ging. Sonst noch fand sich in dem für seine Bewohnerin wohl viel zu großen Raum nur ein an der Wand befestigter, großer Spiegel. Er war nicht ganz von jedweder Beschädigung verschont, doch tat er seinen Zweck noch recht gut. Schnell fand man das Fehlen eines Bettes in dem Zimmer vor, doch erklärte dies den im Grunde recht gemütlichen Boden.
Momentan, um nicht früher als 8:00 Uhr morgens, fand man Vice, eingerollt in demselben Tuch, das wohl ihr einziges Kleidungsstück darstellte, mitten auf dem Boden liegend vor.
Sie schlief mit ihrem Bauch auf dem Boden und der Spitze ihres Schweifes in den Himmel gestreckt welcher sich leicht hin und her bewegte und sich aufgrund seiner Länge auch nicht davon stören ließ, wenn das Mädchen an dem er hing am Boden herum rollte. Wachsam nahm die Schweifspitze jede Schwingung in der Luft auf, was es dem Mädchen erlaubte, jederzeit sofort aufzuspringen, wenn ihr jemand zu nahe kam.
Angeborene Fähigkeiten wie diese waren für ein Mädchen wie Vice schon immer überlebensnotwendig gewesen. Ihre Originalform bot wenig Schutz gegen Angriffe, mit einem rein auf Geschwindigkeit und Beweglichkeit getrimmten Körperbau. Da sie auf diesen Körper angewiesen war, wenn sie lautlos herum schlich, um sich ihrer Beute oder ihrem Opfer zu nähern, war es unentbehrlich die kleinsten Bewegung in ihrer Nähe zu spüren, bevor es zu spät war.
…
Vices Vergangenheit hätte auch niemals eine Zukunft nach sich gezogen, hätte ihr Körper keine Fähigkeiten geboten sich zu schützen. Sie war kreiert worden in einem der vielen Labore The Citys als ein neuer Prototyp eines Wesens, das in jeder möglichen Situation eingesetzt werden konnte. Wäre der Prototyp ein Erfolg gewesen, so hätte man ihn als Einsatzkräfte für die Polizei, die Feuerwehr oder für den Einsatz bei anderen gefährlichen Situationen in Massen produziert. Leider zeigte der Prototyp jedoch einen irreparablen Fehler auf: Die Anpassungsfähigkeit, die die Kreation ausmachen sollte, schien erst nach unzähligen realitätsnahen Situationen einsatzfähig zu werden – es wäre somit ein unbeschreiblicher Aufwand gewesen, Vice in Massen zu produzieren. Das Projekt wurde gestoppt und Roboter wurden nach wie vor für zu gefährliche Situationen benutzt.
Vice, als ein fehlgeschlagenes Projekt, sollte verschrottet, oder in ihrem Fall, da sie ein lebendes, atmendes, denkendes Wesen war, getötet werden. Zu ihrem Glück jedoch erkannte sie die sich ihr nähernde Gefahr vorzeitig und konnte ihre Peiniger überlisten und aus deren Klauen fliehen – nicht jedoch, ohne dabei ein gehöriges Blutbad zu hinterlassen, das jedwede Neuaufnahmen des Projektes zu Nichte machte. Nie mehr sollte sie irgendjemandes Befehlen gehorchen müssen, war was sie sich damals gedacht hatte.
Nicht so unwiderleglich hielt sie sich jedoch an diese Entscheidung, als das Gebäude, in dem sie sich nach ihrer Flucht zurückgezogen hatte, abgerissen werden sollte. Der Mann der den Abriss schlussendlich verhinderte war ein Mann namens Silver - das Gebäude in dem sie gewohnt hatte war das Waisenhaus, welches sie auch nun noch ihr Zuhause nannte.
Sie konnte den Charakter des jungen Mannes vorerst nicht ausstehen, doch störte sie seine Anwesenheit nicht genug, als dass sie ihn vertrieben hätte und erneut riskiert hätte, dass ihr Zuhause abgerissen würde. Sie lebte mit ihm zusammen und er teilte seine Mahlzeiten mit ihr. Er begann das alte Gebäude zu renovieren und weitere Personen hier wohnen zu lassen. Wie ein Chamäleon an seine Umgebung passte Vice sich an die neue Situation an, die sich ihr darbot. Sie freundete sich mit den Jugendlichen an und folgte mit ihnen den Befehlen Silvers. Nach wie vor hielt sie ihren neuen Vorgesetzten für nicht sonderlich sympathisch, doch was sollte sie schon anderes machen, als sich anzupassen. Es war ihre Art, so zu handeln, wie sie es tat.
…
Der Schweif des jetzt 13-jährigen Mädchens erstarrte in seine Bewegung und ihre Augen öffneten sich, als sie in einem schnellen Sprung vom Boden an die Wand sprang und dort kleben blieb – jemand hatte sie an der Schulter berührt, ohne das sie bemerkt hatte, dass sich ihr jemand genähert hatte.
Dritter Stock, Unas Zimmer. Die Wände waren gestrichen in einer Mischung aus drei frischen Grüntönen, die Fenster des Raumes waren an ihren Seiten bestückt mit gelben Vorhängen und der Boden war mit langen Leisten aus dunklem Holz verkleidet worden. Eine Replik des großen Bettes in Iias Zimmer, nur mit rotbrauner, jedoch ebenso kuschelig weicher Bettwäsche, machte den Großteil des sonst freien Raumes aus. Tatsächlich war die Farbgebung des Raumes der einzige offensichtliche Unterschied zwischen den Zimmern der Flammelle und Una, was mitunter daran lag, das Iia dem Cyborg bei der Gestaltung unter die Arme gegriffen hatte. Sogar der kleine, niedrige Holztisch mit der imitierten Bienenwachskerze war auch in diesem Raum präsent. Anstatt von Iias Regal an Kinderbüchern hortete Una jedoch Geschichtsbücher, Geografische Atlanten und Wissenschaftliche Zeitschriften. Es sprach wohl für sie, einen Datenspeicher anstatt einem menschlichen Gehirn zu haben, der es ihr erlaubte, Unmengen an Daten langhaltig zu speichern. Umso problematischer war es wohl, als dieser Speicher unwiderruflich gelöscht wurde.
Momentan, kurz nach 8:00 Uhr, fand sich Una jedoch bereits lange nicht mehr in ihrem Zimmer wieder. Sie war schon seit 7:00 Uhr wach gewesen, hatte sich bereits gewaschen und dem Frühstück beigewohnt. Die anderen hatten sie nach dem Essen aufgefordert, nach der Schlafmütze zu sehen, die dieses verpasst hatte, Vice. Sie hatte sich ohne große Vorsicht in deren Zimmer begeben, sich neben das am Boden liegenden Mädchen gehockt und sie mit ihrem Zeigefinger an der Schulter angetippt, bis diese mit einer rapiden Bewegung von ihr weg sprang.
…
Nachdem Silver, Vice, Iia und Shea bereits zusammen wohnten, waren sie eines Tages bei einem Raubzug über den leblosen Körper eines Cyborgs gestolpert, welcher einfach weggeworfen zu sein worden schien. Silver hatte den Vorschlag gemacht, die Maschine mit sich zu nehmen, um sie zu untersuchen. Bei seinen Untersuchungen hatte der junge Mann festgestellt, das an dem Körper des Cyborgs im Grunde nichts kaputt war und dieser nur deaktiviert worden war – dies hieß, wer auch immer sein letzter Besitzer war, hatte ihn loswerden wollen und keine bessere Lösung gefunden, als ihn auf die Straße zu werfen.
Nach dem Motto „Wer es findet, darf es behalten.“ reaktivierte Silver den Cyborg und stellte schnell fest, dass dieser doch mehr durchlebt hatte, als eine Deaktivierung. All seine gespeicherten Daten waren gelöscht worden, was sowohl sein Wissen, seine Vergangenheit als auch seine Funktionen beinhielt. Eine vollständige Neuprogrammierung war notwendig.
Unter dem Namen Una wurde der Cyborg zu einem neuen Leben erweckt. Anstatt Una jedoch in eine gefühlslose Arbeitsmaschine zu verwandeln, die jedem Befehl ohne Hintergedanken gehorchte, machten Silver und seine Mitbewohner aus ihr ein Lebewesen auf gleicher Stufe mit ihnen. Sie wurden Freunde, ein Team. Silver brachte ihr Bücher, die Una über die Welt in der sie lebte informieren sollten und bis zu diesem Tag tut sie nichts lieber, als etwas Neues über sich und ihre Welt heraus zu finden.
…
Vice Augen leuchteten in der Dunkelheit ihres Raumes, als sie Una gebannt musterte. Die echsenähnliche Mutantin fand sich in einer vollen Angriffsstellung wieder, während der Cyborg vor ihr ruhig und unbewegt zu ihr aufsah. Man sah Vice an, wie sie die Situation nicht fassen konnte. Nicht nur hatte Una ihr Zimmer unbemerkt betreten, sondern sich ihr auch noch dazu unbemerkt genähert und es geschafft sie zu berühren. So etwas war noch nie zuvor passiert.
„Du hast verschlafen.“ bemerkte das Cyborg-Mädchen schließlich und brach damit die unerträgliche Stille im Raum.
Vice ließ sich von der Wand auf den Boden sinken und zog ihr Tuch eng um sich. Sie näherte sich Una und berührte deren Wange mit ihrer Handfläche. Sie fühlte nichts Ungewöhnliches an ihr. Sie spürte die Präsenz ihrer Mitbewohnerin nun wieder klar und deutlich.
„Stimmt etwas nicht…?“ fragte Una nun und griff mit ihrer Hand nach der, die Vice an ihre Wange gelegt hatte. Diese zog ihre Hand jedoch mit einer schnellen Bewegung zu sich selbst zurück.
„Nichts.“ sagte sie knapp und schritt an der anderen vorbei aus dem Zimmer, auf dem Weg zum Frühstück. Una blieb noch einige Sekunden zurück in Vice Zimmer und sah sich um, bevor sie der Gestaltwandlerin folgte. Irgendetwas war nicht im in Ordnung…
Zweiter Stock, Sheas Zimmer. Der Junge hatte sich dafür entschieden, seine Wände in einfachem Weiß zu streichen. Die Fenster hier hatten keine Vorhänge und waren der Straße zugewandt, so dass der Mond eine Chance hatte, nachts auf sein Bett zu scheinen. Der Boden von Sheas Zimmers war mit demselben Paketboden gekleidet wie der in Iias Zimmer. Das Bett im Raum war kleiner als das der Mädchen mit Bettwäsche gehalten in hellem Blau. Sonst noch im Raum befanden sich ein leeres Bücherregal, ein kleiner Schrank mit Ersatzkleidung und ein Schreibtisch auf dem einige eingerahmte Fotos und eine Kamera Platz fanden.
Auf einem der Fotos sah man Shea und Iia, wobei sich das Mädchen an die Seite des Jungen presste und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Auf einem anderen Foto sah man ein Gruppenfoto der Scorpions ohne Una, daneben ein Einzelfoto des Cyborgs. Dann waren da Fotos des Kreuzes im Speisesaal und des Antiken Kalenders und ein Foto mit zwei Erwachsenen und einem kleinen Kind – Sheas Eltern und ihm. Auf einem letzten Foto war dann noch ein glücklich lächelndes Mädchen im zarten Alter von vielleicht fünf Jahren, mit orangerosanem, langem Haar und einem großen schwarzen Hexenhut in ihren Armen, welcher ein Gesicht zu haben schien, das stark an einen Halloween-Kürbis erinnerte.
Es war gerade kurz vor 6:00 Uhr morgens, als Shea aufgestanden war und sich angezogen hatte. Er ging an dem Schreibtisch mit den Fotos vorbei, jedem dieser einen flüchtigen Blick zuwerfend, während er sich zu seiner Zimmertür begab und durch diese ins Treppenhaus hinaus trat.
…
Shea war bis zu seinem achten Lebensjahr bei seinen Eltern aufgewachsen. Er hatte ein wirklich wünschenswertes Leben. Seine Eltern waren wunderbare Menschen gewesen und er hatte auch eine große Schwester, ein wunderschönes Mädchen, mit der er sich zwar hin und wieder gestritten hatte, doch sich auch immer wieder schnell vertragen hatte. Shea hatte auch viele Freunde gefunden, unter ihnen jedoch keine so wertvoll wie Franziska, ein Mädchen, das zwar um ein Jahr jünger war als er, jedoch immer dazu bereit war, alles Mögliche mit ihm zu unternehmen. Sie war fast wie eine kleine Schwester für den Jungen gewesen, doch war er für sie etwas anderes. Shea hatte es niemals bemerkt, doch hing dieses kleine Mädchen ungemein an ihm. Sie war eifersüchtig auf jeden anderen, der dem Jungen auch nur nahe kam. Sie wollte ihn für sich alleine, sie wollte nicht dass man ihn ihr weg nahm. Ganz oben auf der Liste der Personen, die sie deshalb hasste, war die Familie des Monddrachen.
„Shee? Was ist los, Shee?“ Nie mehr sollte er die Stimme des Mädchens vergessen. „Shee, ich habe sie weg gemacht! Wir können jetzt für alle Ewigkeiten miteinander spielen, Shee!“ Nie mehr würde er den Anblick vergessen, wie das kleine Mädchen mit einem Messer in der einen und einem Hexenhut in der anderen, lachend zwischen den entstellten Körpern seiner Familienmitglieder herum sprang. „Komm, Shee, lass und etwas spielen. Niemand wird uns mehr stören, und wenn, dann…“ Sie hatte das Messer durch die Luft geschwungen und dabei Blut von dessen Klinge in Sheas Gesicht spritzen lassen. Nie mehr sollte er den Ablauf dieses Abends vergessen. „Shee!? Was machst du Shee!? Hilf mir!!! Lasst mich los!!!! Shee!!!!! Shee!!!!!!” Nie mehr sollte er den Wahnsinn in ihren Augen vergessen, als sie von Männern in weißen Kitteln abgeführt wurde.
Er hatte innerhalb eines Abends alles verloren. Seine Eltern, seine Schwester, seine beste Freundin, alles. Es gab niemanden mehr, der sich um den Jungen kümmerte. Niemand beachtete ihn. Seine anderen Freunde gingen ihm aus dem Weg, er flog von der Schule, er landete auf der Straße. Nur mit aller Mühe kämpfte er sich durch, bis er eines Morgens nicht mehr auf den Straßen, sondern in einem heruntergeko0mmen Waisenhaus erwachte. Silver hatte ihn aufgegabelt und dorthin gebracht. Schnell hatten der junge Mann Shea alles erklärt, das wichtig war, und ihm einen neuen Sinn in seinem Leben gegeben. Hier traf Silver jedoch auf etwas Gegenwehr, denn sein neuer Mitbewohner hatte bereits einen Sinn in seinem Leben.
„Ich will dieses Mädchen… ich will es in meinen Händen zerquetschen, Silver.“
Der nun 13-jährige Shea hatte das Foto seiner Eltern und das Foto seines schlimmsten Feindes immer nahe bei sich getragen. Er erzählte nur Personen von seiner Vergangenheit, die ihm nahe standen. Unter den Scorions kannte nur Silver seine wahre Geschichte.
…
Nach dreimaligem Schlagen seines Handrückens an die Tür vor ihm trat Shea ohne auf eine Antwort zu warten in Iias Zimmer ein, wo er diese am Boden sitzend vorfand. Ein zugeklapptes Bilderbuch lag neben ihr, so konnte er schließen, sie war nicht gerade erst aufgestanden. Da sie jedoch immernoch ihren Schlafanzug trug, konnte er auch schließen, dass sie es nicht geplant hatte in nächster Zukunft ihr Zimmer zu verlassen.
„Guten Morgen.“ kam es von dem Mädchen, das erst erstaunt über den frühen Besuch war, dann jedoch das glücklichste Lächeln der Welt auf ihre Lippen zauberte.
Shea näherte sich ihr wortlos und setzte sich neben ihr auf den Paketboden, bevor er einen seiner Arme hinter ihrem Hals herum auf die von ihm weiter entfernte Schulter des Mädchens legte. Diese war es nicht gewohnt, dass der Junge, dem ihr Herz gehörte, sich ihr näherte und nicht umgekehrt, so begann ihr Herz in einem Augenblick rasend schnell zu pochen. Es war sonst so leise im Raum, dass Shea dies hören konnte, doch ließ er sich davon nicht stören. Ein Grinsen trat auf seine Lippen, als er seinen Kopf in die Richtung des Mädchens neben sich drehte.
„Iia, hast du etwas Zeit?“ fragte der Junge ruhig, woraufhin das Mädchen nur aufgeregt nickte.
„Was denkst du über das, was wir machen?“ fragte der Junge somit weiter, woraufhin das Mädchen hochrot im Gesicht wurde.
„I-ich weiß nicht. E-es, ahm… N-nein, i-ich bin b-bereit für alles, das d-du willst, Shea!“
Die Röte im Gesicht des Mädchens ließ darauf schließen, das sie kurz davor war zu schmelzen, doch der Junge neben ihr festigte nur den Griff an der Schulter des Mädchens und näherte sein Gesicht dem ihren etwas mehr.
„Ich meine, was wir als Gruppe machen.“ stellte er kla-
„G-GRUPPE!?!“ Das Mädchen sprang aufgeschrocken von ihm weg und erstarrte mitten in der Bewegung. „W-wie, wa-?!“ Nein, nein, nein, sie konnte jetzt nicht zurück weichen. Wenn sie jetzt zurück wich, dann würde sich nie wieder eine solche Chance erge…ben…
Shea betrachtete die Flammelle mit einem nach wie vor präsenten Grinsen auf seinen Lippen. Eben jenes Grinsen, hatte sie nun auch bemerkt.
„D-du redest von unserer Arbeit, richtig?“ fragte Iia nun zögerlich.
„Klar, was hast du gedacht?“ erwiderte ihr gegenüber nur knapp.
„Nnnn-ichts! Nichts nichts nichts, also was hast du gefragt?“
Der Junge machte eine Handbewegung, die das Mädchen dazu aufforderte, wieder neben ihm Platz zu nehmen. Dieses Mal legte er nicht seinen Arm um sie, sondern sie ihre Hand auf die seine, welche flach auf dem Boden lag.
„Wie gesagt, ich wollte wissen was du über unsere Tätigkeiten denkst.“ wiederholte der Junge seine Frage nun erneut.
„Tätigkeit… äh, ah. I-ich habe darüber auch schon nachgedacht. Es… ist nicht wirklich ungefährlich, findest du nicht?“
„Ja, das ist ein Punkt, aber das meine ich nicht. Denkst du, was wir machen ist das Richtige?“ Auf diese Worte hin musste Iia einige Sekunden lang überlegen, bevor sie wieder antwortete.
„Das… ist schwer zu sagen. Wir stehlen recht wertvolle Dinge, aber die Leute, von denen wir sie stehlen scheinen auch nicht gerade nett zu sein…“
„Würdest du nett sein, wenn jemand bei dir eindringt, um deinen wertvollsten Schatz zu stehlen?“
„Ah, nein, du hast Recht.“
„Wir haben uns schon oft gefragt, was Silver mit diesen Dingern vorhat. Einige, das wissen wir, verkauft er, doch andere kann er nicht verkaufen und lässt sie hier einfach rumliegen. Was bezweckt er damit?“
„V-vielleicht ist er ein Kleptomane?“
Shea musste auf diese Antwort hin leise lachen und rückte näher an Iia heran. Sie spürte am ganzen Körper, wie sehr dem Jungen diese Antwort gefallen hatte.
„Von der Seite hab ich das noch gar nicht betrachtet.“ bemerkte er, packte das Kinn der Flammelle mit seiner freien Hand und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, bevor er von ihr abließ und sich mit seiner rechten Hand über die Stirn wischte. Schweißperlen vielen davon ab. „Danke. Aber jetzt musst du mich leider entschuldigen. Ich muss mich noch duschen, bevor ich das Frühstück machen gehe.“ Mit diesen Worten ließ der Junge seine Freundin zurück. Der Raum in dem sie saß besaß jetzt eine konstante Lufttemperatur von 35° Celsius. Kein Wunder, dass der Junge zu schwitzen begann, doch hatte er sich dies wohl selbst zuzuschreiben.
To be continued!