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dead end
Beitrag: #1
vom - dead end
Gesteinsbrocken lösten sich von der Hauswand und stürzten in das tiefe Wasser hinab. Wie von einer wilden Bestie wurden sie verschlungen und hinterließen schon bald keine Spur von sich. Lediglich kleine Wellen lösten sie auf dem Wasser aus, die sich vom Punkt des Einsturzes symmetrisch ausbreiteten, um nach wenigen Metern wieder eins mit dem Rest des ruhigen und stillen Gewässers zu werden und jede erdenkbare Spur des Einsturzes zu verschleiern.
Nicht gerade selten durchbrach das Geräusch von herabfallendem Gestein die endlose Stille, in der er sich befand. Immer wieder zuckte er erschrocken zusammen, als er für einen kurzen Moment aus seinen Gedanken geworfen wurde. Wie ein lauter Knall drang das Geräusch in seinen Gehörgang und breitete sich zunehmend lauter aus, um sich Stück für Stück in seine Gedanken zu manifestieren. In jedem dieser Momente ballte er seine Hände zu Fäusten und versuchte, sein Gehör und den nachhallenden Knall auszublenden… und die Realität, in die er immer wieder zurückgeholt wurde.
Er zwang sich zu Ruhe, indem er auf sein Bewusstsein selbst einredete. Mittlerweile zögerte er nicht mehr, sich selbst zu belügen, während er in einem See voller Wahrheit ertrank. Wie ein unfertiges Puzzle setzte sich seine Scheinwelt mit jedem Gesteinsbrocken, der erneut in das knietiefe Wasser fiel, mehr zusammen. Er leugnete nicht, dass er ab und zu sogar darauf wartete, dass erneute Teile von den zertrümmerten Häuserwänden um ihn herum abfielen, um ihm ein weiteres Mal die Chance zu geben, sich in seine eigene Welt zurückziehen. In ganz ungeduldigen Momenten öffnete er seine zusammengekniffenen Augen einen Spalt breit und besah zögernd sein Umfeld…
Das Dorf, das er aus seinen Erinnerungen kannte, war nicht das, was es sein sollte. Gebrandmarkt von Zerstörung und Verwüstung, geschmückt durch zahlreiche Ruinen von einst prächtigen Häusern. Wie die Dornen einer Rose ragten die einzelnen und zerstörten Häuserwände wild verstreut aus dem Wasser heraus. Von der früheren Schönheit des Dorfes, auf die er so stolz war, war nichts mehr übrig geblieben. Seine Erinnerungen zeigten ihm die Vergangenheit, während er durch seine Augen mit der Realität konfrontiert wurde. Einer Realität, die er nicht verstand.
Sein Blick glitt von den Trümmern der Häuser zu seinen Beinen, die nach wenigen Zentimetern im tiefen Dunkel des Wassers verschwanden. Er spürte sie nicht mehr, und doch fühlte es sich so an, als würden tausende Nadeln ihn stechen und langsam jeden Millimeter seiner Haut aufspießen, um seine Flucht vor der Realität zu verhindern. Der stechende, immer wieder kehrende Schmerz raubte ihm Konzentration; überaus wertvolle Konzentration, die er für die Reise in seine eigene Welt benötigte. Er bekam das Gefühl, dass er all dem Entkommen konnte, würde er nur einen Schritt setzen, dann den nächsten, und wieder einen...

Etwas berührte seine Hüfte. Er erstarrte und riss die Augen weit auf. Eine Welle aus Angst und Panik überkam ihm, der er hilflos ausgesetzt war. Stur sah er gerade aus, während er sich nicht traute, auch nur einen Muskel seines Körpers zu bewegen… oder seinen Blick auf das zu richten, was ihn gerade berührt hatte. Seine Gedanken rasten quer durch seinen Kopf, verwirrten ihn, machten ihn wahnsinnig. Die Neugier, die Ehrfurcht, die Realität. Er wusste, würde er ansehen, was er nicht sehen wollte, würde ihn die Realität einholen; ihn fangen und an sich ketten, um eine Flucht unmöglich zu machen… Er hatte es so weit geschafft, sollte er das alles für einen einzigen Blick aufs Spiel setzen? Konnte er seine Scheinwelt einfach so verbannen, wo er sie doch gerade mit Liebe und Sorgfalt aufgebaut hatte? All die Zerstörung, all das Leid, all der Schmerz – hatte er all das umsonst über sich ergehen lassen, um es jetzt für einen verdammten Blick wieder zu ruinieren?
Er ballte seine Fäuste erneut und versuchte, das Zittern seines Körpers zu bezwingen – und mit dieser auch seine Panik. Mehrmals atmete er tief ein und aus, in der Hoffnung, seine Gelassenheit und Ruhe wieder zu erlangen. Ausblenden, er musste alles ausblenden, sich ablenken, seine Gedanken ordnen. Zu lange hatte er der Realität um ihn herum seine Aufmerksamkeit geschenkt. All das Leid und der Schmerz wurden ihm wieder vor die Augen geführt. Alles, was er mit Mühe verdrängt hatte, war nun wieder da. Die Erinnerungen, die Bilder, die Wahrheit. Er durchlebte alles ein weiteres Mal; sah, wie die riesige Flutwelle die Küste und sein Dorf zerschmetterte; hörte die Schreie seiner Familie und der restlichen Dorfbewohner; fühlte die Angst und die Panik, die in ihm aufstiegen, als er verzweifelt nach einem Ast griff, um den Strömungen des Wassers zu entkommen…
Er kniff seine Augen zusammen. Seine Zähne gruben sich in seine Unterlippe. Blitzschnell fasste er sich mit seinen Händen an den Kopf und krallte sich in sein Haar. Ein paar Mal schlug er mit der Faust gegen seinen Kopf, um die Erinnerungen und Bilder von der Ankunft des Tsunami aus seinem Kopf zu verbannen. Immer wieder schlug er gegen seinen Kopf, biss sich auf die Unterlippe und krallte sich in sein Haar hinein, um sich gewaltsam von seinen Erinnerungen zu lösen. Er wollte schreien; die Gedanken verjagen, doch schnürte ihm die Angst seine Kehle zu, sodass nicht ein Laut seinen Mund verließ, als er zum Schrei ansetzte.
Schließlich verließ ihn die Kraft. Wie ein Kartenhaus sackten seine Beine zusammen und zwangen ihn auf die Knie. Zitternd krallte er sich mit dem letzten Stückchen Kraft, das er besaß, in seinen Kopf und krümmte sich, während sein Körper vom eiskalten Wasser erdolcht wurde. Tränen rannen seinen Wangen hinab, und mit ihnen seinen zertrümmerte Scheinwelt. Er hatte verloren. Gegen die Realität. Gegen sich selbst. Seine stummen Schreie der Verzweiflung erfüllten seine Seele. Der vermeidliche Glauben an sich selbst, stark genug für dieses Massaker zu sein, zerbrach in ein Meer aus Scherben und riss das letzte Stückchen Kraft mit sich.

Erneute Stille legte sich den Fängen einer hungrigen Bestie gleich um den Jungen inmitten der Trümmer seines Dorfes und erlöste ihn vom Anblick der viel zu grausamen Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, vor der er kein weiteres Mal fliehen konnte.




dead end.

[Bild: bls2h2c4c.png]
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